Berlin: (hib/VOM) Die Wahlrechtskommission hat am Dienstagabend den Zwischenbericht beschlossen, den sie gemäß ihrem Auftrag (20/1023) dem Bundestag bis Ende August vorlegen muss. 17 Kommissionsmitglieder stimmten dem Bericht zu. Es gab fünf Enthaltungen und eine Gegenstimme. Abweichende Sondervoten kamen dazu von den drei Unionsabgeordneten Ansgar Heveling, Alexander Hoffmann und Nina Warken, den drei von der Unionsfraktion benannten sachverständigen Kommissionsmitgliedern Bernd Grzeszick, Rudolf Mellinghoff und Stefanie Schmahl, dem AfD-Abgeordneten Albrecht Glaser und der von der Linksfraktion benannten Sachverständigen Halina Wawzyniak.
Mit 16 Ja-Stimmen bei sechs Gegenstimmen votierte das Gremium für die im Zwischenbericht enthaltenen Empfehlungen zur Verkleinerung des Bundestages, die von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und den von ihnen jeweils benannten sachverständigen Kommissionsmitgliedern formuliert wurden. Danach soll das Wahlsystem so reformiert werden, dass die Regelgröße des Bundestages von 598 Sitzen sicher eingehalten und das Grundprinzip der personalisierten Verhältniswahl beibehalten wird. Nach diesem Modell der verbundenen Mehrheitsregel sollten die Sitze im Parlament weiterhin nach dem Verhältnis der Zweitstimmen auf die Parteien verteilt werden, wobei zunächst auf Bundesebene die Sitzzahl der Parteien festzustellen sei. Die 598 Sitze würden im Verhältnis der von den Parteien bundesweit errungenen Zweitstimmen verteilt. Die so ermittelte Sitzzahl einer Partei werde sodann im Verhältnis nach den von ihr in den Ländern erzielten Zweitstimmen auf die Landeslisten der Partei verteilt.
Um sogenannte Überhangmandate zu vermeiden, sollen laut Kommissionsmehrheit einer Partei in einem Land nur so viele Wahlkreismandate zugeteilt werden, wie ihrer Landesliste Mandate zur Verfügung stehen („Zweitstimmendeckung“). Haben in einem Land mehr Kandidierende einer Partei in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erststimmen erhalten, als der Partei Listenmandate zustehen, solle den Kandidierenden, die die relativ geringste Zahl an Erststimmen ihrem Wahlkreis erhalten haben, kein Mandat zugeteilt werden. Allerdings will die Kommissionsmehrheit für den Fall der Nichtzuteilung eines Wahlkreismandats an den oder die Erstplatzierte den Wahlkreis nicht unbesetzt lassen. Beschrieben werden vier mögliche Mechanismen für die alternative Zuteilung des Wahlkreismandats, wobei die Zuteilung über eine Ersatzstimme zur Erststimme bevorzugt wird. Damit sollen die Wählerinnen und Wähler zum Ausdruck bringen können, welcher Kandidierende ihre „zweite Wahl“ gewesen wäre. Die Ersatzstimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, deren Erststimme wegen mangelnder Zweitstimmendeckung des bevorzugten Kandidaten nicht berücksichtigt werden konnte, würden dann zu den Erststimmen der anderen Wählerinnen und Wähler hinzugezählt. Der Wahlkreis ginge an den Kandidaten oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen bei gleichzeitig vorhandener Zweistimmendeckung.
Den Empfehlungen zufolge sollen alle Parteien an der Mandatsverteilung teilnehmen, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten haben. Über die Fortgeltung und die verfassungskonforme Ausgestaltung der bisherigen sogenannten Grundmandatsklausel (Einzug in den Bundestag trotz Unterschreitens der Fünf-Prozent-Hürde durch mindestens drei gewonnene Direktmandate) müsse politisch entschieden werden, heißt es. Darüber hinaus solle die Kandidatur parteiloser Bewerber als Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten weiterhin möglich sein. Im Übrigen tritt die Kommission für ein nachvollziehbares und verständliches Wahlrecht ein.
Das von der Unionsfraktion und ihren Sachverständigen favorisierte „echte“ Zwei-Stimmen-Wahlrecht lehnt die Kommissionsmehrheit hingegen ab. In der Sitzung wurde strittig darüber abgestimmt, ob das Wort „echte“ in Anführungszeichen zu setzen sei. Hier setzten sich die Befürworter mit 16 Ja-Stimmen bei sieben Gegenstimmen und einer Enthaltung durch. Die Urheber der Bezeichnung, die Sachverständigen Grzeszick, Mellinghoff und Schmahl, wollten auf die Anführungszeichen verzichten. Ihr Modell beschreibt ein Wahlsystem, bei dem ein Teil der Abgeordneten durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und ein anderer Teil durch bundesweite Verhältniswahl nach Landeslisten gewählt werden, beide Systeme aber unverbunden nebeneinander stehen.
Möglich wäre laut Mehrheitsempfehlung auch eine Wahlrechtsreform durch Reduzierung der Wahlkreiszahl, durch Veränderung der gesetzlichen Regelgröße und durch Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten in anderen Bundesländern. Sie böte aber nicht dieselbe Gewähr für eine wirksame Reduzierung der Sitzzahl des Bundestages, argumentiert die Koalition.
Die CDU-Abgeordneten Ansgar Heveling und Nina Warken sowie der CSU-Abgeordnete Alexander Hoffmann haben in einem Sondervotum begründet, weshalb sie die Empfehlungen der Kommissionsmehrheit nicht mittragen. Sie stimmten zwar mit der Kommissionsmehrheit darin überein, dass das Wahlrecht nachvollziehbar und verständlich sein sollte. Durch den von der Mehrheit verfolgten Grundsatz der Zweitstimmendeckung verliere das Wahlrecht jedoch an Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit. Darüber hinaus halten sie es für unabdingbar, das Risiko der Verfassungswidrigkeit eines reformierten Wahlrechts so gering wie möglich zu halten, um eine stabile und dauerhafte Grundlage für künftige Bundestagswahlen zu schaffen.
Heveling, Warken und Hoffmann äußern die Überzeugung, dass die Nichtzuteilung von Wahlkreismandaten an Kandidaten, die die meisten Stimmen in ihrem Wahlkreis errungen haben, verfassungsrechtlich überaus problematisch sei. Eine Zuteilung von Wahlkreismandaten an Kandidaten mit einer geringeren Erststimmenzahl als der Erststimmensieger verstoße gegen das demokratische Mehrheitsprinzip, heißt es im Entwurf des Sondervotums. Sie plädieren für wahlrechtliche Lösungen, bei denen das Risiko nicht besteht, dass sie vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden. Dabei müssten auch Ansätze ins Auge gefasst werden, die über die derzeitige Ausgestaltung des personalisierten Verhältniswahlrechts hinausgehen. Der Sitzverteilung nach dem Zweitstimmenverhältnis komme keine verfassungsrechtliche Priorität zu. Das Bundesverfassungsgericht habe das Modell eines „echten“ Zwei-Stimmen-Wahlrechts, das die drei Abgeordneten empfehlen, ausdrücklich als verfassungskonform ausgewiesen.
In einem weiteren Sondervotum erklären die von der Unionsfraktion benannten Sachverständigen Grzeszick, Mellinghoff und Stefanie Schmahl, dass sie fünf der zehn Empfehlungen der Kommissionsmehrheit nicht mittragen. Sie halten das Wahlsystem einer verbundenen Mehrheitsregel für verfassungswidrig und verweisen stattdessen auf ihren Vorschlag zur Einführung eines „echten“ Zwei-Stimmen-Systems. Sowohl die Abgeordneten der Unionsfraktion als auch die von ihnen benannten Sachverständigen kündigten an, den Wortlaut ihrer Sondervoten für die Veröffentlichung im Zwischenbericht noch zu überarbeiten.
Der AfD-Abgeordnete Albrecht Glaser empfiehlt in seinem Sondervotum, den Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zur Änderung des Bundeswahlgesetzes aus der vergangenen Wahlperiode (19/22894), den er als Reformvorschlag in die Kommission eingebracht hatte, unverändert anzunehmen. Abweichend vom Koalitionsvorschlag plädiert Glaser dafür, Wahlkreise, deren Erststimmensieger keine Zweitstimmendeckung vorweisen können, ohne Direktmandat zu lassen, auf ein Ersatzstimmenverfahren zur Besetzung also zu verzichten („Vakanzmodell“). Die Verfassungsproblematik der Einführung einer „Ersatzwahl“ erscheine nicht lösbar, heißt es zur Begründung. Die unterschiedliche Form der wahlrechtlichen Legitimation durch Erststimme oder Ersatzstimme für die identische Funktion eines Wahlkreisabgeordneten kann nach Ansicht Glasers unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht verfassungsgemäß sein.
Die von der Linksfraktion benannte Sachverständige Halina Wawzyniak unterstützt in ihrem Sondervotum zwar das Prinzip der Zweitstimmendeckung, lehnt das Vakanzmodell aber ab und spricht sich gegen eine Vorfestlegung auf ein Modell aus. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, aus den verschiedenen Vorschlägen das aus seiner Sicht beste Modell in einen Wahlgesetzentwurf zu überführen.
In der Frage der Absenkung des aktiven Wahlalters bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre schreibt die Kommissionsmehrheit, dafür sprächen das politische Interesse und Engagement vieler junger Menschen, die demografische Entwicklung, das Ziel der Generationengerechtigkeit sowie die positiven Erfahrungen mit einer entsprechenden Absenkung bei Landtags- und Kommunalwahlen in mehreren Ländern. Die Absenkung sollte vor allem in den Schulen von einer Stärkung der politischen Bildung begleitet werden, empfiehlt die Kommissionsmehrheit. Dem stimmten 16 Mitglieder zu, sechs votierten dagegen.
In ihrem vorläufigen Sondervotum dazu empfehlen die Unionsabgeordneten Heveling, Hoffmann und Warken, das aktive Wahlalter von 18 Jahren beizubehalten. Schulische Maßnahmen zur Stärkung der politischen Bildung fielen in die Zuständigkeit der Länder, weshalb die Kommission dazu keine Empfehlung abgeben sollte. Gegen die Absenkung sprechen sich auch die Sachverständigen Schmahl und Grzeszick in ihrem vorläufigen Sondervotum aus. Sie befürworten eine verstärkte politische Bildung in den Schulen, weisen aber ebenfalls auf die Zuständigkeit der Länder hin. Auch der AfD-Abgeordnete Glaser lehnt in seinem Sondervotum eine Absenkung des aktiven Wahlalters ab.
Die Kommission stellt darüber hinaus fest, dass Frauen und Männer im Bundestag sehr ungleich vertreten sind. Vorschläge zur Veränderung des Wahlrechts durch Einführung zwingender Paritätsregelungen bis hin zu Rechtsfragen des Eingriffs in die Satzungsautonomie der Parteien mit Blick sowohl auf Kandidierendenaufstellungen als auch Regelungen zu Listenaufstellungsverfahren seien kontrovers debattiert worden. Die Kommission werde sich im zweiten Halbjahr 2022 erneut mit dem geringen Frauenanteil im Parlament und mit verfassungskonformen Vorschlägen zur Sicherstellung der gleichberechtigten Repräsentanz befassen. Albrecht Glaser (AfD) erklärt in seinem Sondervotum dazu, er stimme der Mehrheitsentscheidung nicht zu. Gründe für abweichende Verhaltensweisen lägen in unterschiedlichsten Motiven des Individuums, nicht in strukturellen Gegebenheiten. Deshalb könnten keine Parteien und Parlamente entstehen, die einer statistischen Abbildung der Geschlechterzusammensetzung der Bevölkerung entsprechen würden.
Der Bundestag hat die aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen bestehende Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit am 16. März 2022 eingesetzt (20/1023). Sie soll ihren Abschlussbericht bis 30. Juni 2023 vorlegen.
Quelle: hib – heute im bundestag Nr. 431, Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen, Mittwoch, 31. August 2022