Heute fand vor Beginn der Landtagssitzung eine Protest- und Mahnwache gegen Gewalt an Frauen statt. Anlass war der Femizid am 08. März 2023 in Sachsen-Anhalt. Politiker*innen, Berater*innen und Unterstützer*innen des Beratungs- und Hilfesystems für Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt forderten Gewalt gegen Frauen zu stoppen, das Hochrisikomanagement als Instrument der Gewaltprävention flächendeckend in Sachsen-Anhalt umzusetzen und einen operativen Opferschutz einzuführen.
Veröffentlichung Polizeiliche Kriminalstatistik - Häusliche Gewalt auf Höchststand
Der Landesfrauenrat hat mit Blick auf die polizeiliche Kriminalstatistik und den Femizid folgende Pressemitteilung veröffentlicht:
5.101 Betroffene von Partnerschaftsgewalt bzw. Gewalt in engen sozialen Beziehungen verzeichnet das Innenministerium in der am 14.03.2023 veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) im Jahr 2022. Das sind 543 mehr Fälle als im Vorjahr. Mit einem Anstieg von 12 Prozentpunkte setzt das den traurigen Trend der Vorjahre fort: Seit Jahren steigt die Zahl der polizeilich gemeldeten Fälle von Gewalt in Partnerschaften. Hierbei handelt es sich um das sogenannte "Hellfeld". Der Landesfrauenrat Sachsen-Anhalt und die Beratungs- und Hilfseinrichtungen gehen von einem erheblich größeren Dunkelfeld nicht erfasster Fälle aus. Die Beratungsstellen Sachsen-Anhalt sind ebenfalls im Jahr 2022 mit einem erheblichen Anfragenzuwachs konfrontiert.
Die geschlechtsdifferenzierten Zahlen stehen noch aus. Jedoch ist aus fachlicher Sicht davon auszugehen, dass die übergroße Zahl der Opfer weiblich ist. Hierzu wird sich der Landesfrauenrat zu einem späteren Zeitpunkt äußern.
„Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2022 muss aufschrecken: Nicht nur am Tag der Veröffentlichung, sondern alle 365 Tage im Jahr! Mit Blick auf den Femizid in Bad Lauchstädt wird in aller Dramatik sichtbar, wo Gewalt gegen Frauen und Mädchen enden kann“, so Eva von Angern, Vorsitzende Landesfrauenrat Sachsen-Anhalt.Der Landesfrauenrat verurteilt aufs Schärfste eine noch immer gängige öffentliche Darstellung solcher Delikte als "Beziehungstat“, „Eifersuchtstragödie“ oder „Trennungs- oder Familiendrama“. Es geht hier nicht um Kavaliersdelikte, sondern um schwere Straftaten. Die vorgenannten Begriffe verharmlosen die Taten und schreiben den Opfern zumindest unterschwellig eine Mitschuld zu. Wir sagen ganz klar: nicht die Opfer sind schuld, sondern die Täter.
Die bestehenden Hilfsangebote für Opfer häuslicher Gewalt in Sachsen-Anhalt sind im Vergleich zu manchen anderen Bundesländern zwar gut, aber längst nicht ausreichend. Es fehlen immer noch spezialisierte Angebote für Kinder, die von Gewalt (mit-)betroffen sind, eine langfristig gesicherte Finanzierung und Angebote für Frauen und Mädchen mit Behinderung. Damit der Zugang zum Hilfesystem für alle Opfer sichergestellt ist, braucht es einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe gegen geschlechtsspezifische Gewalt und eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention.
Landesbeauftragte für Frauen- und Gleichstellungspolitik fordert Ausbau Hochrisikomanagement
Sarah Schulze, Landesbeauftragte für Frauen- und Gleichstellungspolitik, plädiert dafür, das bislang auf Halle (Saale) begrenzte Pilotprojekt des polizeilichen Hochrisikomanagements, wie im Koalitionsvertrag und in der Istanbul-Konvention verankert, auf das ganze Land auszudehnen. Zum Schutz von besonders gewaltbetroffenen Frauen arbeiten in diesem Projekt Polizei mit Ämtern, Frauenschutzhäusern, Interventionsstelle und Beratungsstellen zusammen, damit die Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen bestmöglich koordiniert werden.
Sarah Schulze: „In Deutschland wird nahezu an jedem dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres Partners oder eines Ex-Partners getötet. Um gewaltbetroffene Frauen bestmöglich zu schützen, braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Beratungsstellen und Hilfesystem. Daher gilt es, die positiven Erfahrungen des Pilotprojekts schnellstmöglich auszuwerten und für alle Polizeiinspektionen im Land zu nutzen.“
Innenministerin verspricht flächendeckendes Hochrisikomanagement
Nach dem gewaltsamen Tod einer 59 Jahre alten Frau in Bad Lauchstädt am 8. März 2023 hat sich das Ministerium für Inneres und Sport umfangreich berichten lassen, wie die Polizei- und die Waffenbehörde vor Ort vor der Gewalttat mit dem Fall von häuslicher Gewalt im familiären Umfeld umgegangen sind. Die bisherige Auswertung dieser Berichte legt den Schluss nahe, dass der polizeiliche Umgang mit dem Geschehen hätte anders und vor allem professioneller erfolgen müssen.
Bei der Aufklärung des Sachverhalts geht es insbesondere auch um die Frage, was unternommen wurde, nachdem das Opfer am 1. Februar 2023 die Polizei einschaltete: Der von ihr getrennt lebende Ehemann hatte die Frau zuvor mit dem Auto verfolgt und versucht, sie aus ihrem Wagen zu ziehen. Der 61 Jahre alte Mann war seit diesem Zeitpunkt als Waffenbesitzer bekannt.
Das Polizeirevier Saalekreis hätte seit dem 1. Februar 2023 vertieft weiter ermitteln, unbedingt die vorgeschriebene Gefährderansprache umsetzen, eine Gefährdungsanalyse treffen und gewonnene Informationen beweissicher dokumentieren müssen. Für eine Entscheidung der Waffenbehörde, die waffenrechtliche Eignung zu überprüfen und die waffenrechtlichen Erlaubnisse zu entziehen, wäre es dringend erforderlich gewesen, dass Polizei und Waffenbehörde bei der Gefährdungsbewertung enger zusammengearbeitet hätten.
Innenministerin Dr. Tamara Zieschang: „Auch ich bin erschüttert über die Tat in Bad Lauchstädt. Den Angehörigen der getöteten Frau gehört mein und unser aller Mitgefühl. Die entsetzliche Tat zeigt die Gefahr, die von Menschen ausgeht, die Waffen missbrauchen, um andere zu verletzen oder zu töten. Waffen gehören nicht in die Hände von aggressiven, gewalttätigen oder extremistischen Menschen. In solchen Fällen gilt es, diesen ihre Waffen schnellstmöglich zu entziehen. Es ist in jedem Einzelfall entscheidend, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass legal besessene Waffen missbräuchlich verwendet werden könnten. Das Ministerium für Inneres und Sport hat nun mehrere ergänzende Maßnahmen getroffen, um landesweit Polizei und Waffenbehörden zu sensibilisieren und anzuhalten, bei Fällen von häuslicher Gewalt im familiären Umfeld schnell und konsequent zu handeln und die rechtlichen Möglichkeiten auszureizen. Zum Schutz der Betroffenen. Zu unser aller Schutz.“
Polizei und Waffenbehörden werden nochmals landesweit sensibilisiert, wie mit Fällen von häuslicher Gewalt im familiären Umfeld umzugehen ist. Dabei wird auf die bereits bestehenden, umfangreichen Regelungen nachdrücklich hingewiesen. Mit Blick auf die Polizei geht es darum, Gewalteskalationen zu verhindern und die Opfer wirksam und proaktiv vor weiterer Gewalt zu schützen. Dafür gilt es, alle relevanten Institutionen einzubinden, um eine konsequente Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass Fälle häuslicher Gewalt im familiären Umfeld mit hoher Priorität bearbeitet, unverzüglich die Opferschutzbeauftragten eingeschaltet und in Fällen, bei denen Tatverdächtige über waffen- oder sprengstoffrechtliche Erlaubnisse verfügen, alle notwendigen Informationen an die zuständigen Behörden übermittelt werden.
Darüber hinaus wird als Sofortmaßnahme nunmehr ergänzend vorgeschrieben, dass es bei Fällen von häuslicher Gewalt im familiären Umfeld, bei denen Tatverdächtige über waffen- oder sprengstoffrechtliche Erlaubnisse verfügen, verpflichtende Fallkonferenzen zwischen Polizei sowie den für Waffen- und Sprengstoffrecht zuständigen Behörden gibt. Dies soll sicherstellen, dass bei der Gefährdungsbewertung eng zusammengearbeitet wird, um die Möglichkeiten des Waffenrechts stringent zu vollziehen.
Zudem wird das Hochrisikomanagement für Fälle häuslicher Gewalt im familiären Umfeld bei der Landespolizei ab Frühsommer 2023 landesweit eingeführt. Dieses Konzept sieht vor, dass Fälle von Gewalt in engen sozialen Beziehungen oder Stalking anhand verschiedener Kriterien objektiv daraufhin bewertet werden, ob ein Hochrisikofall vorliegt. Wenn die betroffenen Opfer einverstanden sind, wird der Fall mit verschiedenen Institutionen besprochen und alle notwendigen Maßnahmen koordiniert. Dabei können je nach Sachlage verschiedene Behörden und Ansprechpartner einbezogen werden, beispielsweise das Jugendamt, die Interventionsstelle, das Jobcenter, das Frauenschutzhaus oder die Ausländerbehörde.
Das Hochrisikomanagement wurde seit 2020 im Rahmen eines Pilotprojektes im Polizeirevier Halle (Saale) erfolgreich erprobt und evaluiert. Im Ergebnis hat sich das Konzept bewährt. Eine landesweite Einführung soll ermöglichen, dass Fälle häuslicher Gewalt im familiären Umfeld in allen Behörden strukturiert und konsequent angegangen und gemeinsam mit allen einzubeziehenden Beteiligten die Opfer geschützt werden.
Hintergrund:
Das Ministerium für Inneres und Sport hat sich umfänglich berichten lassen, was die zuständige Polizeibehörde und die zuständige Waffenbehörde seit dem 1. Februar 2023 unternommen haben, als eine Bedrohung der 59-Jährigen durch ihren früheren Partner bekannt wurde. Nach derzeitigem Kenntnisstand stellen sich die Abläufe wie folgt dar: Am 1. Februar 2023 war die 59 Jahre alte Frau aus Bad Lauchstädt in ihrem Auto unterwegs und wurde dabei von ihrem ehemaligen Mann mit einem Auto verfolgt und mehrfach ausgebremst. Der 61-Jährige versuchte auch, sie aus ihrem Auto zu ziehen. Die Frau flüchtete in ein Geschäft und verständigte die Polizei, während der 61-Jährige den Tatort verließ.
Schon während der Anzeigenaufnahme wegen Bedrohung, Nötigung im Straßenverkehr, Straßenverkehrsgefährdung und Nachstellung gab die 59-Jährige an, dass der 61-Jährige unter Alkoholeinfluss hochaggressiv sei und sie Angst vor ihm habe. Zudem schilderte sie, dass der Mann im Besitz von Schusswaffen sei und sie die Befürchtung habe, er könne diese Waffen einsetzen, wenn er volltrunken sei. Das Polizeirevier Saalekreis unterbreitete der 59‑Jährigen Informationen und Angebote zum Opferschutz und schaltete mit ihrem Einverständnis die Interventionsstelle Halle (Saale) als Fachberatung bei häuslicher Gewalt und Stalking ein. Weitere Details zu Opferschutzmaßnahmen können zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen nicht genannt werden.
Nach der Aufnahme der Anzeige sollte eine Gefährderansprache beim 61-Jährigen erfolgen, der jedoch nicht angetroffen wurde. Die noch nicht umgesetzte Maßnahme wurde als Aufgabe an die nächste Schicht übergeben. Warum im Nachgang keine Gefährderansprache erfolgte, kann von der Polizeiinspektion Halle (Saale) bislang nicht aufgeklärt werden.
Mit der Anzeige und den Angaben der Frau war der Waffenbesitz des 61 Jahre alten Mannes seit dem 1. Februar 2023 aktenkundig polizeilich bekannt. Am gleichen Tag wurde die zuständige Waffenbehörde des Landkreises Saalekreis von dem Beamten, der die Anzeige aufgenommen hatte, schriftlich über die Strafanzeige und den zugrundeliegenden Sachverhalt informiert. Dabei wurde auch auf den Waffenbesitz und die Befürchtungen der 59-Jährigen eingegangen, ihr früherer Partner könnte Waffen einsetzen. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass die Gefahr besteht, dass der Mann seine Waffen missbräuchlich einsetzt. Zudem teilte das Polizeirevier Saalekreis der Waffenbehörde am 13. Februar 2023 ergänzend zwei weitere Sachverhalte mit, an denen der 61-Jährige als Tatverdächtiger beteiligt war: Eine Strafanzeige vom 19. März 2020 wegen Körperverletzung, bei der die Ehefrau das Opfer war und zu der die Ermittlungen eingestellt worden waren, sowie eine Strafanzeige vom 12. August 2022 wegen einer telefonischen Bedrohung einer anderen Betroffenen. Diese vorliegenden Erkenntnisse wurden auch in die polizeiliche Beurteilung der Gefährdungslage einbezogen.
Diese vorliegenden Erkenntnisse wurden mit dem Ziel an die Waffenbehörde übermittelt, die Eignung des Waffenbesitzes des 61-Jährigen sowie die Erlaubnis zum Führen einer Waffe überprüfen zu lassen. Die Waffenbehörde hat unverzüglich nach Kenntnis des Vorfalls vom 1. Februar 2023 die notwendigen Prüfungen zur waffenrechtlichen Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers eingeleitet.
Im Ergebnis hat weder das Polizeirevier Saalekreis wegen Gefahr in Verzug noch die Waffenbehörde die Voraussetzungen für eine sofortige Sicherstellung der Waffen als vorliegend angesehen.
Dieser tödliche Fall häuslicher Gewalt im familiären Umfeld wird mit der gesamten Landespolizei und den Waffenbehörden ausgewertet werden.